Kategorie: Utopie Extern

Zwischen Zeiten

ZWISCHEN ZEITEN
(ein -Telefon-gespräch)

Lena: Hy Jakob.

Jakob: Hallo Lena. (Pause) Was wird das nun? Das ist eine sehr, sehr eigenartige Situation!

Lena: Das kann ich mir vorstellen, aber die Situation ist für mich auch ziemlich skurril. Weißt du schon, was du mich fragen willst?

Jakob:  Ich weiß nicht genau. Vielleicht möchte ich mir ein Bild machen von dir und deiner Zeit. So irgendwie. Wir haben – wie ich es verstanden habe – gut eine halbe Stunde und dann schließt sich der Zeittunnel wieder. Ich bin nervös.

Lena: Ja, gut 30 Minuten haben wir. Keine Sorge, ich spüre deinen Druck. Gehen wir es trotzdem langsam an, oder?

Jakob: Langsam? Wir haben doch so wenig Zeit. Lena, ich fühle mich gerade wie ein Auserwählter. Ich telefoniere in die Zukunft. Das ist nicht gerade normal . . .

Lena: (lacht) Schon klar. Und ja, irgendwie bist du ein Auserwählter, aber wir nehmen das nicht so genau und wir haben dich eigentlich per Zufall gefunden. Das ist ja ein reines Humanprojekt und wir nutzen die Möglichkeit der Zeitenkommunikation zum zwischenzeitlichen Erfahrungsaustausch.

Jakob: Und kann sich dadurch die Zukunft verändern?

Lena: Ja, aber wir hängen da nicht direkt zusammen.

Jakob: Also hat unser Gespräch nicht das Ziel, uns Erfahrungen aus eurer Zeit zu schicken, um Handlungen in unserer Zeit zu setzen, um dann Änderungen in eurer Zeit zu bewirken?

Lena: Nein Jakob, das geht doch gar nicht. Das ist nicht “Zurück in die Zukunft”. Versteh es wie ein Gespräch zweier Menschen aus zwei verschiedenen Zeiten. Ähnlich, als ob du mit einem alten Menschen sprichst, der dir von früher erzählt, nur, dass du nun mit einem ganz jungen Menschen sprichst, der dir von der Zukunft erzählt . . .

Jakob: Okeee, ziemlich schräg und verdreht. (überlegt) Lena, du sagtest, unser Gespräch ist ein Humanprojekt für euch? Wie kann ich mir das vorstellen?

Lena: Ja genau, wir Menschen machen unter anderem Humanprojekte. Das sind Projekte zur Exploration unseres Seins auf dieser Welt.

Jakob: Sprichst du da von Philosophie?

Lena: Nein, Philosophie ist ja irgendwie theoretisches Denken und nachdenken über ziemlich abstrakte Fragestellungen. Das machen wir in unserer Zeit auch, aber vielleicht etwas anders als in Eurer. (überlegt) Humanprojekt . . .  wie erkläre ich dir das am besten. (überlegt weiter) Es ist etwas Individuelles. Ich spreche mit dir und mache eine neue Erfahrung und du sprichst mit mir und machst auch eine neue Erfahrung. Dies trägt zu unserer beider Leben etwas bei, integriert sich bei uns und integriert sich in die Welt.

Jakob: Ich glaube ich stehe noch immer auf der Leitung. Ich verstehe zwar was du sagst, aber eigentlich verstehe den Zweck nicht? Du sprachst von Exploration des Seins, du sprachst von der individuellen Erfahrung, die wir beide machen. Ok. Aber welches Ziel verfolgt dieses Projekt? Bist du Teil einer Forschungsgruppe. Wir sprechen immerhin über eine “Zeitmaschine” miteinander.

Lena: Nein, nein, nein lieber Jakob. Du denkst viel zu kompliziert. Es ist nicht mehr als ich dir sage. Es ist keine Forschung, es ist keine Gruppe mit einem Ziel oder einem Auftrag. Es ist mein individuelles Humanprojekt. Ich wachte heute Morgen auf und dachte mir, wie es wohl jemanden vor hundert Jahren ging und so fand ich dich . . .

Jakob: Das kann ich kaum glauben. (überlegt) Und wer hat nach mir gesucht und uns zusammengebracht?

Lena: Das war Klio . . . so nenne ich sie jedenfalls.

Jakob: Klio?

Lena: Klio, hmmm, sie hat die Zeitkommunikation ermöglicht, aber auch sehr viel mehr. Sie ist die erste nichtbiologische Lebensform. Ich glaube in eurer Zeit sprach man von künstlicher Intelligenz.

Jakob: What the fuck! Das heißt, wir telefonieren durch einen Zeittunnel der von einer künstlichen Intelligenz geschaffen wurde? Das ist sicher ein Projekt von Google? Aber Scherz beiseite, mich würde interessieren wer Klio betreibt und was dieser – wenn ich es so nennen darf – Service kostet?

Lena: (Lacht) Ich lerne jetzt schon so viel von dir und über eure Zeit. (Pause) Ich bezahle natürlich nichts für Klio, sie ist eine eigenständige Lebensform. Sie wird von niemandem betrieben. Sie hat sich uns Menschen zur kooperativen Verfügung gestellt. Und umgekehrt haben wir uns bereit erklärt, mit ihr zu kooperieren. Wir ergänzen uns gut und helfen wo es geht. Trotzdem bleibt jeder auch gerne mal für sich. (Pause) Und was mit Google geschah ist eine andere Geschichte . . .

Jakob: (Lacht) Ich wills gar nicht wissen. Deine Story klingt fast zu perfekt um wahr zu sein.

Lena: Ja, es ist schon alles ganz wunderbar bei uns und die Liste der Annehmlichkeiten ist lang. Aber uns trennen auch viele Jahre. (überlegt) Jakob, darf ich vielleicht auch ein bisschen in deine Zeit eintauchen? Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie es bei dir aussieht. Ihr habt eine ziemlich kaputte Umwelt und viele Konflikte . . .

Jakob: Das stimmt wohl. Am Schlimmsten empfinde ich die Ungleichheit unter uns Menschen. Und ich habe große Sorgen, dass wir unsere Probleme nicht lösen werden, weil wir nicht zueinander finden. (Pause) Aber du machst mich gerade zuversichtlich. Anscheinend bekommen wir alles doch irgendwie auf die Reihe? Klingt zumindest nach einer guten Welt bei euch?

Lena: Das ist sie auch . . . (Stille) aber es gibt noch sehr, sehr viel zu tun. Ich bin zwar erst 12, erst kurz auf dieser Welt und trotzdem froh, dass uns Menschen räumliche wie zeitliche Zufälle gewogen waren. Glücklicherweise konnten den kapitalegoistischen Zyklus hinter uns lassen . . .

Jakob: Du bist erst 12, ich frag erst gar nicht. Kapititalegoismus? Ja, das hört sich verdammt nach unserer Zeit an.

Lena: Damit ist tatsächlich auch eure Zeit gemeint. Was macht dieses Wort mit dir?

Jakob: Es macht mich traurig und wütend gleichzeitig. Traurig, dass das die Bezeichnung der Epoche sein wird in der ich lebe. Wütend, weil ich mich hilflos fühle. Wütend, weil ich nicht sehe, wie die Welt eine Bessere werden sollte. Wütend, weil vieles zu tun wäre, aber eigentlich viel zu wenig getan wird. Wütend, weil man als Einzelner oft belächelt wird. Es ist deprimierend und doch ist da Hoffnung. Die Jugend organisiert sich und darüber bin ich sehr froh. Trotzdem bin ich zerrissen und mit diesem Gefühl bin ich nicht allein. (Schweigen)

Lena: Jakob, das klingt sehr, sehr traurig und ich danke dir aufrichtig für diesen schweren Moment. Ich spüre, wie schwer es für dich ist, trotz den Momenten der Hoffnung. Ich verstehe, warum du dich zerrissen fühlst und ich hoffe, dass ich mich an dieses Gefühl noch lange erinnern darf. (überlegt) Aber ich darf dir auch versichern, dass wir in unserer Zeit keine negativen Gefühle gegen eure Zeit oder gar gegen euch Menschen haben. Das wäre für uns paradox. Denn es wohnt in jedem Menschen, von Geburt an, ein Antrieb, das Allerbeste aus seinem Leben zu machen. So ist das auch bei euch. Und vielleicht ist das eine Qualität des Menschseins die wir in unserer Zeit klarer sehen. (Schweigen)

Jakob: Lena, danke für deine mitfühlenden Worte, ich nehme sie gerne an. Ich würde auch deiner Aussage gerne Glauben schenken, und doch bezweifle ich diesen besonderen und positiven menschlichen Antrieb, von dem du sprichst.

Lena: Jakob, dass verstehe ich gut. Nichts desto trotz würde ich dir diesen Zweifel gerne zu nehmen versuchen, denn geht es in diesem Fall nicht um Glauben. (überlegt länger) Es geht um das “Wie des Werdens” und ich würde es dir wirklich noch so gerne ausführlich erklären, aber leider sind wir am Ende unserer Zeit und sollten uns noch verabschieden . . .

Jakob: (Seuftzt) Wie schade, ich wäre noch gespannt darauf gewesen. Aber ja, verabschieden sollten wir uns unbedingt. Was soll ich sagen? (überlegt) Ich bin noch immer überfordert, aber ich verspüre auch großen Dank in mir. Dank für die neue Hoffnung und die unglaublichen Bilder die du mir gabst. Ein großes Geschenk für mich. Danke Lena, Mädchen aus einer besseren Zukunft. Werden wir uns wieder hören?

Lena: Das weiß ich leider noch nicht. Aber ich danke auch dir lieber Jakob, (überlegt) du hoffnungsvoller Mensch in dieser verwirrenden Welt. Ich danke dir für alles was du mit mir in dieser kurzen Zeit geteilt hast. Freuen wir uns darauf, was dieses Gespräch unserem Sein zutragen wird . . .

Jakob: Darauf freue ich mich sehr, mach es gut liebe Lena.

Lena: Mach du es gut lieber Jakob.

[37MIN/Ein Gespräch zwischen den Zeiten/Humanprojekt Lena J./2119.11.19]