Einmal Himmel und zurück

EINMAL HIMMEL UND ZURÜCK

Ein Versuch der gedanklichen Rekonstruktion des technisch Gewesenen.

Es war ein mäßig windiger, thermischer Mai Vormittag und kein Problem in der Luft zu bleiben. Deshalb hatte ich mich an diesem Tag auch für den kleinen Freestyleschirm entschieden, auf welchem ich nicht viel Flugzeit und Erfahrung hatte. Es waren mit mir zahlreiche andere Piloten in der Luft und ich hatte vor eine gute Stunde zu fliegen und zu üben.[1]

Nach etwa 15 Flugminuten zog ich nach einigen Wingovern[2] die rechte Steuerleine kräftig, um die Kurvenenergie zu nutzen, und eine Spiraleinleitung[3] zu machen. Zu diesem Zeitpunkt war ich etwa 150 Meter über dem Hohe Wandplateau und schon etwas, wenn auch nicht weit, vorne von der Felswand weg. Hier würde ich den Abstand auf ungefähr 100 Meter schätzen.

Als ich zur Spiraleinleitung ansetzte, zog ich wohl zu heftig an der Steuerleine. Und als der Schirm auf die Eintrittskante kippte und in den Spiralflug[4] wechselte, provozierte ich einen groben Flugfehler. Ich zog die kurveninnere Steuerleine zu weit und verursachte einen einseitigen Strömungsabriss[5]. Dadurch kamen zwei entgegengesetzt wirkende Kräfte zusammen. Einerseits die Zentrifugalkraft der Spirale, die den Gleitschirm mit hoher Energie und Geschwindigkeit Richtung Boden bewegt. Und andererseits der Strömungsabriss, wobei das Segel durch Entleeren die Stabilität verliert und einen großen Widerstand in der Luft produziert.

Es machte flapp und zwei bis dreimal zapp. Was war los? Man stelle sich vor, die Hand bei 130 km/h auf der Autobahn abrupt aus dem Fenster zu strecken. Was passiert? Sie reißt es natürlich voll zurück. So ist erging es meinem Schirm. Eine Seite bremste und die andere düste weiter. Daher drehte der Schirm einige Male um die Vertikalachse. Dies ist eine lässige Aktion, sofern man sich als Pilot unterhalb im gleichen Tempo mit dreht. Ich drehte mich nicht mit und somit war ich zwei bis dreimal eingedreht oder wie ein Flieger sagt, getwistet[6].

Durch die eingeklemmten Steuerleinen im Twist merkte sich mein Schirm sozusagen den letzten Flugzustand, sprich den beginnenden Spiralflug. Der Schirm begab sich also wieder in diesen Modus. Ich war also mehrfach eingedreht und vielleicht noch 50m neben und über der Kante der Felswand.

In dieser, im wahrsten Sinne, verdrehten Spiralsituation blieb mir nicht viel Zeit zum Überlegen. Nun hatte die Situation meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Mein erster Impuls war ausdrehen. Das gestaltete sich durch die hohen Zentrifugalkräfte als äußerst schwierig. Es ist, als versuche man sich wie ein Wurm mit Schwung in eine Richtung zu hieven um eine Drehung zu machen. Vielleicht habe ich einen Twist geschafft, das weiß ich heute nicht mehr. Es ist auch nicht relevant, da sich die Flugeigenschaft des Schirms nicht veränderte. So hatte ich den Spiralsturz zu akzeptieren und akzeptierte auch schon, dass ich aus diesem Twist nicht mehr herauskommen würde.

Während dieser Überlegungen vergingen vielleicht einige Sekunden und nun war ich schon unter der Kantenhöhe der Wand und relativ schnell Richtung Boden unterwegs. Außerdem näherte ich mich merklich und immer weiter der Felswand. Das war folglich meine nächste Sorge und ich musste mich irgendwie von den Felsen entfernen. Mit mehreren Versuchen Zugkraft auf die Steuerleinen zu bekommen, machte ich dann – ob durch meine Versuche beeinflusst oder nicht – den erhofften Richtungswechsel. Somit gewann ich wieder etwas Abstand zur Felswand.

Auf fortgeschrittenem Weg Richtung Erdboden schoss mir die nächste Handlungsalternative. Der Rettungsschirm, der Rettungsschirm. Um ihn zu erreichen bedurfte es, neben der recht fordernden Gesamtsituation, doch einiges an Konzentration. Doch irgendwie konnte ich sie noch aufbringen, drehte mich, sah auf den Rettergriff rechts unter meinem Hintern und überlegte hinzulangen, um den Rettungsschirm rauszuhauen. Heute weiß ich nicht mehr warum, aber ich entschied mich dagegen.

In diesem Moment war mir klar, der Aufprall ist unvermeidlich und es wird gleich sehr weh tun. Im Bewusstsein, nicht mehr viel Zeit zu haben, fokussierte sich mein Hirn offenbar auf den Aufprall. Ich drehte mich noch circa 2 bis 3 Spiralrunden und in Rückwärtslage, vielleicht etwas nach rechts außen geneigt und schlug dann in einen kahlen Baumstamm ein. Es müssen circa 5 bis 7 Meter Resthöhe gewesen sein, von denen ich vorwärts hinunterfiel. Die verbliebene Energie meines Fluges wurde von meinen Beinen, meinem Arsch und der großen Hangneigung abgebaut.

Dann lag ich da und lebte.

 

[1] Zum besseren Verständnis ein Exkurs in die Gleitschirmwelt: Ein Gleitschirm ist ein sichelförmiger, sich von vorne mit Luft füllender, und durch diese selbst stabilisierender, Flugkörper, mit gut 20m² Fläche. Die vordere Öffnung des Schirms nennt sich Eintrittskante. Er hängt auf vielen, sich wie die Äste eines Baumes verzweigenden, Leinen. Das ganze Leinenpaket ist zweigeteilt und jeweils mit einem Karabiner, links und rechts, am Gurtzeug des Piloten befestigt. Das Gurtzeug ist der Sitz des Piloten, hat einen Schaumstoffprotektor oder Luftsack um Stürze zu dämpfen und einen Rettungsschirm eingebaut. Zur Schirmsteuerung verwendet man die Steuerleinen, auch Bremsen genannt. Sie haben am Ende eine Schlaufe zum Einhalten und mit Zug, entweder links oder rechts, bremst man den Schirm und macht eine Kurve in die jeweilige Richtung.

[2] Wingover: Pendelbewegung des Gleitschirms, bei welcher der Pilot in horizontaler Perspektive höher als der Schirm steigt

[3] Spiraleinleitung: Steilkurve zur Einleitung des Manövers

[4] Spiralflug: Flugmanöver, bei dem die Eintrittskante Richtung Boden schaut  und sich der Pilot als äußerster Punkt einer Zentrifuge  um den Schirm dreht

[5] Strömungsabriss: Jener Punkt, an dem eine oder beide Steuerleinen soweit gezogen werden, dass sich der ganze oder halbe Gleitschirm entleert und nicht mehr fliegt.

[6] Twist: Beim Eintwisten drehen sich das linke und rechte Leinenpaket ein. Die größte Gefahr dieses Eindrehens ist eine gewisse Handlungsunfähigkeit des Piloten. Durch das Eindrehen des Leinenpaketes werden auch die Steuerleinen eingedreht und man kann, aufgrund eingeklemmter Leinen, nicht mehr steuern. Im Normalflug mit ausreichend Höhe fliegt der Schirm weiter, man dreht sich aus und kann wieder steuern.